Unruhegeist zwischen den Welten

Eine Reise auf den Spuren Annemarie Schwarzenbachs

 von Kafka Minolta

Die Schweizer Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach hatte ein bewegtes Leben. Von ständiger Unruhe getrieben, hat sie beinahe die ganze Erde bereist. Stets an ihrer Seite: das Opium und die tiefe Tristesse. Ihre Spuren lassen sich nur schwer einfangen. Ein Tagebuch.

Zürich, 15. Juni

Stadtauswärts werden die Bäume dichter und gehen in einen steil abfallenden Mischwaldteppich über. Die S-Bahn schleicht in Richtung Süden und hält an der letzten Station: Sihlwald. Das Wasser der Sihl hüllt das Tal in eine erholsame Frische. Die Zeltplatzwärterin riecht nach Schnaps und trägt auf ihrem T-Shirt einen Totenkopf aus Strass. Von Annemarie Schwarzenbach hat sie nie gehört.

Die Schweizer Autorin, Journalistin, Fotografin und Globetrotterin schrieb unzählige Reisefeuilletons, Romane über Fernost, Geschichten über die Seiltänze der Liebe und Beschreibungen ihres geliebten Engadins. Kritiker werfen ihren Romanen zu viele autobiografische Parallelen vor, schwärmen jedoch von ihrem Versuch, eine neue deutsche Sprache zu erfinden. Ihre Schönheit und ihr Wesen machen sie heute zu einem Mythos.

Nicht weit von Sihlwald liegt Bocken, der ehemalige Landsitz der Familie Schwarzenbach. Zunächst muss man zu Fuß den Wald durchqueren. Nach eineinhalb Stunden Tannenbaumduft und frisch gemähtem Gras, fährt ein Bus aus der kleinen Stadt Horgen hinaus und hält am Beginn einer Landstraße. Inzwischen gehört Bocken einem Schweizer Finanzunternehmen. „Credit Suiss“ steht auf der Tafel vor der breiten Toreinfahrt. Dahinter windet sich ein asphaltierter Weg nach oben, vorbei an sanierten Flachbauten, wo heute Seminare und Tagungen statt finden. Adrette Herren in Hemd und Krawatte schreiten den Hügel hinab. Auf der Kuppe präsentiert sich nun prachtvoll das mehr als 300 Jahre alte Gut. Der Korridor im Erdgeschoss des Landguts ist umsäumt von massiven Holztüren, die starr in die Höhe ragen. Im Inneren riecht es nach alten Rathaussälen. Die Türen sind verschlossen. Auf den Kunststoffschlidern steht „Konferenzraum“ oder „Tagungssaal“. Tritt man hinaus, legt eine knorrige Buchenallee behutsam einen Halbkreis um das Gelände. Von Ferne glänzen schneebedeckt die Alpen.

Hier ist, die im Jahr 1908 als drittes Kind geborene, Annemarie Schwarzenbach aufgewachsen. Zwischen Rododendronbüschen hat sie sich in männliche Uniformen geschmissen, mal ging sie als Matrose mal als Page oder Soldat. Hier hat sie Fluchtpläne geschmiedet und wehmütige Herzensbriefe an Erika Mann verfasst. Ein Paradies, das Annemarie Schwarzenbach bei Zeiten verhasst war. Dabei standen ihr, als Tochter des steinreichen Seidenfabrikants Alfred Schwarzenbach, alle Wege offen.

Die androgyne Schönheit freundet sich 22-jährig mit den Geschwistern Klaus und Erika Mann an. Annemarie Schwarzenbach ist homosexuell, introvertiert und wird immerfort von einer unerklärlichen Traurigkeit geplagt. Die Mutter, die überdies selbst eine leidenschaftliche Affäre zu der deutschen Opernsängerin Emmy Krüger pflegt, versteht ihre Tochter nicht. So kommt es immer wieder zu Konflikten. Das nazifreundliche Elternhaus macht es der antifaschistischen Annemarie nicht einfacher. Im Oktober 1930 schreibt sie nach einem erneuten Zwist an Erika Mann:

Weißt Du, Erika, dass die Zustände hier von Tag zu Tag an Unerträglichkeit zunehmen? […] Verstehst Du, sie sind einfach überzeugt, dass bei mir etwas nicht stimmt. Dass ich irgendwo nicht normal, nicht zurechnungsfähig und zu allem noch hervorragend herzlos sei.

Bei den Geschwistern sucht sie von nun an Trost und die Geborgenheit, die sie auf Bocken bei ihren Eltern nie empfand. In den Schriftstellerkreisen der Manns versunken, gehört sie schon bald zur Bohème des 20. Jahrhunderts.

Beim Durchqueren des Landguts durchbricht immerfort das Rauschen der vorbeiführenden Straße die Stille. In den 1930-er Jahren gab es diese Landstraße noch nicht. Annemarie Schwarzenbach hätte unter den alten Obstbäumen, den himmelnahen Gräsern und der atmenden Natur ein glücklicher Mensch werden müssen. Statt dessen litt sie lebenslang an Depressionen.

Bern, 17. Juni

Die Aare schnellt türkisblau stromabwärts. Darüber thronen altbetagte Häuser aus lehmfarbenem Gestein. Spricht man über Annemarie Schwarzenbachs unzählige Lebensstationen, ist von Bern nie die Rede. Halt machen sollte man hier trotzdem. Nicht weit vom Flussufer entfernt, im Stadtteil Wabern, führt ein kleiner Anstieg, vorbei am Gymnasium, hin zum Schweizer Literaturarchiv. Die Stufen zum letzten Stockwerk führen zu Schwarzenbachs Nachlass. Ein junger Italiener öffnet die Tür. Er heißt Daniele Cuffaro und erzählt, dass das Archiv im Jahr 1980 Briefe, Manuskripte und Fotos von Schwarzenbachs Schwester Anita Forrer geerbt hat. Obendrein erhielt es von der Stadtbibliothek München etwa 150 Kopien der Briefe an Klaus und Erika Mann. Auch von Annemaries Reisegefährtin Ella Maillart bekam der Nachlass eine Menge Privatbriefe sowie Fotografien der gemeinsamen Afghanistanreise. Die Hüterin des Nachlasses ist an diesem Tag nicht anwesend. Ohne sie, dürfe er keine Originale herausgeben, bedauert Cuffaro. Dennoch wird es ein ausgedehnter Nachmittag im Literaturarchiv. Wer sich mit Annemarie Schwarzenbachs Leben auseinandersetzen will, muss sich für eine Karussellfahrt bereit machen.

Mit bereits 23 Jahren schrieb sie ihre Dissertation über die „Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit“. Zuvor hatte Schwarzenbach Geschichte in Zürich und Paris studiert. Daraufhin begann sie zu reisen und bis zu ihrem frühen Tod nicht mehr damit aufzuhören.Getrieben von ihrer steten Rastlosigkeit, besuchte sie in den nächsten vier Jahren Venedig mit den Manns, darüber hinaus Schweden und Finnland, fuhr gemeinsam mit Marianne Breslauer nach Spanien, bereiste mit einer Archäologengruppe zum ersten Mal Vorderarsien und den fernen Osten, begleitete Klaus Mann zum Schriftstellerkongress nach Moskau und half in Teheran bei archäologischen Ausgrabungen. Schwarzenbach wird Reisejournalistin, schreibt für die „Weltwoche“ und die „Neue Züricher Zeitung“ und gönnt sich nie die Erholung, die sie dringend gebraucht hätte. Mit Mitte zwanzig greift sie über Mopsa Sternheim, Tochter des deutschen Schriftstellers Carl Sternheim, zum ersten Mal zu Morphium, später zu Opium. Von nun an bestimmt die Droge ihr Leben. Immer wieder hofft Annemarie Schwarzenbach auf diese Weise ihren Depressionen zu entkommen. In den Stunden des Rauschs gelingt ihr das auch. Hinnehmen muss sie dafür fünf Entziehungskuren und die nun vollkommene Ablehnung der Eltern. Liebe sucht sie fortan bei zahlreichen Frauen, lange bleiben will sie bei keiner. Jahrelang nährt sie sich an der hoffnungslosen Sehnsucht nach Erika Mann. Im Herbst 1935 bemerkt ihr Psychiater Oscar Forel:

„Sie lässt drei bis vier Frauen zu gleich an ihren Schlingen baumeln und zappeln, sie hat es wie Don Juan, der vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht, der schon zur nächsten eilt, bevor er die Gegenwärtige verlassen hat.“

Auf beide Geschlechter übt die intelligente Frau eine enorme Anziehungskraft aus. Frauen wollen die zerbrechlich wirkende Annemarie umsorgen, Männer neigen oft selbst zur Homosexualität.

Ich bewunderte ihre Schönheit und die Eleganz ihrer Bewegungen, auch wenn ich ahne, dass ihr dies womöglich gar nicht so recht war. Denn ihre Schönheit blieb sie allein“,

erinnert sich die Fotografin Marianne Breslauer in ihren Memoiren. Vor zwei Jahren hat Großneffe Alexis Schwarzenbach einen Bildband herausgebracht, in dem er viele bisher unveröffentlichte Fotografien abdrucken ließ. Darunter ist ebenfalls das bekannteste von Breslauer, welches sie im Jahr 1932 von Schwarzenbach schoss. Sie vergleicht sie hier gern mit dem Erzengel Gabriel: Die Haare auf links gescheitelt, blickt die Schriftstellerin knapp an der Kamera vorbei. Ihre Schlupflider, die gerade Nase und der geschwungene, beinahe trotzige Mund auf dem schmalen Gesicht, lassen den Betrachter im Ungewissen, ob es sich um eine Frau oder einen Jüngling handelt. Auch Ulla Mailserver, mit der sie Ende der 30-er nach Afghanistan reiste, war fasziniert von Annemaries Aura

Ihr Blick ließ eine Seele erahnen, der Schönheit alles war […]Begeisterung konnten diese Augen zum Strahlen bringen, ebenso Zuneigung und Liebe; sie erwiderte sehr wohl das Lächeln des anderen, aber ich habe diese Augen niemals lachen sehen“.

Im Mai 1935 versucht Annemarie Schwarzenbach zum ersten Mal sich das Leben zu nehmen. Wenige Monate später heiratet sie den französischen Diplomaten Claude Clarac in Teheran. Er ist selbst homosexuell. Die Eltern Schwarzenbach dulden die Ehe, bleiben aber verständnislos. Annemarie erklärt im April ’35 in einem Brief an Klaus Mann, welche Umstände sie zu dieser Heirat bewogen haben:

Dass ich aber einfach einen Menschen haben will und zu diesem Zwecke einen wähle, mit dem ich auskommen kann, das ist einfach und glaubwürdig. Und dass dafür Claude geeigneter ist als eine enorm fremdartiges, weil enorm männliches Wesen, das weiß Mama nun auch.“

Häufig erkrankt die Schriftstellerin, hat entweder Fieber, Grippe, Pocken, Beschwerden am Fuß, Halsweh oder einen Nervenzusammenbruch. Und immer wieder vergiftet sie sich mit Opium, welches sie in den Briefen an Klaus Mann gern als „Thunfisch“ oder „Fisch“ bezeichnet.

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Es wird Abend. Am Flussufer Luft zu holen ist genau das Richtige, nach dieser Karussellfahrt durch Schwarzenbachs Leben. In Momenten der eigenen Erschöpfung neben ihr zu sitzen, würde nicht gelingen. Denn Annemarie Schwarzenbach strahlte häufig eine fahrige Anspannung aus, welche Ella Maillart folgendermaßen beschrieb:

„Sie lehnte sich an den großen Ofen in der Zimmerecke, die Knie hielt sie umklammert. Ohne die Anspannung, die von ihr ausging wäre es in diesem Bauernhaus […] sehr geruhsam gewesen, während draußen der Sturm heulte“

Sils, 19.Juni

Die Reise führt weiter ins Engadin. Hier im Südosten der Schweiz gewinnen die Berge an Höhe und bekommen weiße Spitzen. Der Autobus schlingt sich durch kurvige Täler, bis er die Gemeinde Sils erreicht.

Häufig regnet es jenseits des Albula, während im Engadin der Himmel heiter ist und sonniges Wetter herrscht. Die Luft ist leicht und trocken, die Sonne besitzt große Kraft, die Bodenwärme ist verhältnismäßig hoch.“

So beschreibt Annemarie Schwarzenbach das Engadin in ihrer Dissertation. Vier Jahre später mietet sie die „Chesa Jäger“ in Sils-Baselgia. Es wird ihr Zufluchtsort, obschon sie dort niemals geheilt wird. Dabei ist es gar nicht so einfach, dieses Haus zu finden. Sils wirbt für das Nietzsche-Haus und für Hermann Hesse, auch für Thomas Mann, aber von Annemarie Schwarzenbach hört der Besucher nicht viel. Es sei denn, er geht ins Kulturbüro „KUBUS“ und fragt nach. Joachim Jung erklärt, wo sich die ehemalige „Sommerfrische“ Schwarzenbachs befindet und weiß auch, wo das Klavier der besagten untergekommen ist. Seine Frau ist darin Expertin, unglücklicherweise ist sie an diesem Tag nicht erreichbar. In Eigenregie geht es auf die Pirsch. Im Sturmregen taucht plötzlich und unerwartet die „Chesa Jäger“ auf. Erkennbar ist sie an der Gedenktafel, welche der Kulturverein im Jahr 2008 daran befestigt hat. Inzwischen steht „Köhler“ am Klingelschild. Dort, wo die steinerne Bank an der Hauswand befestigt ist, führen zwei Treppenläufe hinauf zur Eingangstür. Ein Klingeln, doch es öffnet keiner. Joachim Jung weiß, dass im Untergeschoss die Ofenbank und der hölzerne Tisch, an dem sie geschrieben hat noch originalgetreu erhalten geblieben sind. Die Fensterläden sind in Grün getaucht, im hinteren Teil wuchert ein Garten. Es schüttet. Und alles, was ein durchnässter Besucher in diesem Fall tun kann ist, in die „Chesa Chastè“ zu flüchten. Stolz zeigt der vornehm gekleidete Kellner das Klavier, welches Annemarie Schwarzenbach einst fleißig bespielt hat. Die Schriftstellerin hat es an die ehemalige Besitzerin vermacht. Nun ruht es still in der niedrigen Bauernstube, schwarz und elegant.

Frankreich, USA, Prag, Afghanistan, Indien, Lissabon, Kongo. Annemarie Schwarzenbach ist auf Reisen, nach wie vor. Im Jahr 1941 begeht sie erneut einen Selbstmordversuch und wird abermals psychiatrisch behandelt. Immer wieder findet die junge Frau Ruhe in Sils. So schreibt sie 1932 an Erika Mann:

„[..] im Engadin wo ich mich sicherer bewege und leichter fühle als anderswo.“

 

Ein Streifzug durch Sils-Baselgia und Sils-Maria offenbart gleichwohl die Enge dieser Bergdörfer. Mächtige Wolkenfluten wälzen sich zum Greifen nah über die schroffen Gebirgszüge, welche das Tal schneekettenartig umschlingen. Annemarie Schwarzenbach ist dieser Enge immer wieder entflohen. Doch kaum an ihrem Ziel angekommen, bekommt sie sogleich Heimweh. Nach Sils. Nach den Manns. Nach seelischer Vollkommenheit.

 

Sils, 20. Juni

Es ist Zeit für einen Spaziergang. Zu Fuß. 90 Minuten von Sils nach Silvaplana. Der Weg führt auf unebenem Boden immerfort am Silsersee entlang, durch Waldschneisen und Butterblumenwiesen. Eigentlich führen drei Wege nach Silvaplana. Doch nur diesen kann man mit dem Velo befahren.

Im September 1942 kehrt Annemarie Schwarzenbach von ihrer Afrikareise zurück und sucht abermals Erholung in Sils. Gemeinsam mit einer Freundin sitzt sie auf einer Kutsche und befährt eben diese Strecke, um nach St. Moritz zu gelangen. Dort möchte sie den Vertrag für den Kauf der „Chesa Jäger“ unterschreiben. Eine andere Freundin holte sie mit dem Fahrrad ein und überlässt es Annemarie. Jene tritt in die Pedalen und möchte um jeden Preis die Pferdekutsche überholen. In ihrem Übermut ruft sie: „Ich kann auch freihändig fahren!“. Annemarie Schwarzenbach ist 34 Jahre alt, als sie das sagt. Eine liebenswürdige Eigenschaft, die ihr zum Verhängnis wird. Sie stürzt und knallt mit der Schläfe auf einen Stein. Inzwischen bewusstlos bringen die Freundinnen sie zurück ins Dorf.

Zwei Monate später, am 15. November 1942 stirbt Annemarie Schwarzenbach in ihrem Haus in Sils. Nach der Fehldiagnose Schizophrenie, quälen die Ärzte sie mit Elektroschocks. Irgendwann kann Schwarzenbach nicht einmal mehr den Stift halten, geschweige denn ihre Angehörigen erkennen. Ob die Therapie eine Verschwörung der Nazis war, bleibt fraglich.

Manchmal möchte ich mit der Hand nach meinem Herzen greifen, ob es noch schlägt und das gleiche ist. Es schlägt langsam, wie im Traum. […] Ich denke an das gesprengte Rund der Bergspitzen, die uns mit ihrem Leuchten und ihrer Bläue gnädig waren, und ich denke an die Lieblichkeit des Baches, der in der Mittagshitze zur Erntezeit, so viel über silberne Steine rieselnde Kühlung verbreitete, und an die Schwemme, wo abends die goldenen Pferde standen und ihre Mähne schüttelten.[…]“*

* Gedicht: „In Sils“ 1934

-> Rezension „Das glückliche Tal“

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